Das Meer

 
 

Dunkel ist die Nacht und sternenlos. In der heiligen Bucht wartet die Gemeinschaft, gesammelt. Der Kreis der zwölf Schamanen macht sich bereit für die Zeremonie. Im Ring der Kraft ist das Feuer bereitet, die Trommler umgeben den inneren Kreis der Auserwählten.

Gras-im-Wind hat die Bucht mit ihren heiligen Kräutern gereinigt und gesegnet. Die Tänzer haben sich mit Traum-Spiegel-Frau an die heilige Quelle begeben und hineingeschaut. Die Rituale der Reinigung sind abgeschlossen, alle Verhaftungen sind gelöst.

 

Einer wird gehen müssen, und der Stamm stellt sich diesem Geschehen. Stille steht seit Stunden.  Feuertänzer bringt einen Keim der Heiligen Glut und entzündet das Holz. Singender Pfeil lässt im Herzschlag des Landes seine Trommel ertönen.  Jeder wacht an seinem inneren Ort.

Die Trommler fallen einer nach dem anderen in den Rhythmus der Erde ein. Die Tänzer, um das erwachende Feuer kauernd, nehmen die Trommelklänge auf und erheben sich, tanzend.

Die Erde bebt. Der Vulkan spricht aus der Tiefe. Der unsichtbare Riss, der im Gleichgewicht entstanden ist, erweitert sich.

Heilung tut not, kosmische Energie muss geerdet werden für das Überleben des Stammes. Einer wird gehen müssen, und der Stamm stellt sich diesem Geschehen.

Der Schlag der Trommeln wird kräftiger, die Tänzer sprechen mit ihrem Körper das Lied der Erde nach, immer heftiger werdend im Einklang mit dem Beben. Die Schamanen halten den Ring der Kraft um die Tänzer in gesammelter Aufmerksamkeit. Jeder hat seinen Schüler gesandt; die Tänzer sind Spieglungen der Schamanen.

Die Schamanen müssen bleiben, die Energien hüten und weitertragen. Einer der Tänzer wird gehen müssen zur Heilung des Stammes. Er wird den Riss auf sich nehmen müssen. Er wird es können, da der Riss in ihm ist. Die Schamanen wissen: Nur wer aus dem Gleichgewicht fällt, kann es wiedererlangen. Das Überleben des Stammes hängt ab von der Bereitschaft des einen Tänzers, sein Schicksal auf sich zu nehmen.

Die Gemeinschaft ist bereit für die Wandlung. Einer wird gehen müssen, und ein anderer der Gemeinschaft wird seine Nachfolge antreten als Schüler des Schamanen.

Der Tanz der Erde erfasst die Tänzer. Wirbelnd im Klang der Trommeln bewegen sie sich wie ein einziger Leib. Die Kette ist lückenlos, noch, doch einer wird den Bruch auf sich nehmen. Das schwächste Glied muss das stärkste sein und die Kette verlassen, damit sie wieder in Einklang verbunden werden kann. Keiner der Tänzer weiß, ob er es sein wird. Alle haben sie seit langen Zeiten nur mehr das Gleichgewicht gelebt.

Mit dem Beginn des Vulkanbebens brachte die Schamanin Tiefe Schau die Nachricht:

Das Gleichgewicht kann nicht aufrechterhalten werden. Es muss verloren und wiedererlangt werden. Einklang ist kein Zustand, sondern eine Bewegung. Das Bewahren-Wollen bedeutet den Tod. Den Tod anzunehmen bedeutet das Leben.

Der Stamm hatte sich zu lange auf den Zustand der Harmonie verlassen. Der Vulkan bebt.

In der Mitte der Nacht ist nur noch Tanz und das gewaltige Beben der Erde. Wie eine Säule steigt die ekstatische Schwingung nach oben, zieht Tänzer, Trommler, Schamanen und den Kreis der Gemeinschaft in ihren Bann. Die Kraft verdichtet sich, der Sog wird unermesslich, der Riss tut sich auf.

Weisser Rabe verliert den Kontakt zu ihrem Tänzer.

Die Erde bricht auf bis in das Meer hinein. In dem gewaltigen Riss flutet eine einzige Welle in den Ring der Kraft, löscht das Feuer aus, wirbelt die Tänzer in alle Richtungen davon, ergreift einen der Tänzer und zieht sich zurück.

Das Beben lässt nach.

Am Morgen finden sich alle an der Quelle im Ursprung des Erdrisses. Der Heilige Fluss ist geboren. In seinem klaren Wasser reinigt sich der Stamm, trinkt. Jeder wählt eine Gabe seines Namens und gibt sie segnend dem Fluss, damit er sie trägt zu Den-Die-Welle-Trägt. Weisser Rabe nimmt einen der Trinkenden an die Hand, geht mit ihm in die Berge um ihn zu lehren von den Zusammenhängen der sichtbaren und unsichtbaren Welt.

 

 

Die Leute nennen sie nur die Weberin. Sie kommen zu ihr, um ihr Wolle zu bringen, aus denen sie Mäntel und Decken webt, und um ihr ihre Träume zu erzählen. Nichts löst sie auf, keiner nimmt eine Antwort mit zu seinem Schicksal,  wenn er wieder geht aus ihrem Haus, und doch kommen sie wieder, und gehen getröstet oder ermutigt fort. Niemand weiß, woher die Stumme kam und warum, eines Tages war sie einfach da und blieb. Wenn sie eine Decke vollendet hat, geht sie ins Dorf, bringt sie in das Haus desjenigen, der ihr die Wolle brachte, trinkt einen Becher Wasser oder Wein mit der Familie und hört, was an Neuem, Alltäglichen geschehen ist in der letzten Zeit. Auf dem Dorfplatz warten die Kinder auf sie. Immer hat sie etwas für sie in den Taschen ihres Rockes, eine Handvoll schillernder Muscheln, einen knorrigen, vom Meer glattgeschliffenen Wurzelstock, einen eigenartig geformten Stein mit seltsamen Zeichen darauf. Unter der Steineiche am Dorfplatz setzt sie sich hin; die Kinder bilden einen Kreis um sie, betrachten, was die Stumme ihnen bringt und denken sich Geschichten dazu aus. Wenn alle Geschichten erzählt sind, nimmt sie ein Kind an der Hand und gibt ihm die Muscheln, den Stein. Das Kind trägt das Erhaltene heim und hütet es wie einen geheimen Schatz. Dann steht die Stumme auf und kehrt zurück in ihr Haus über dem Meer.

Heute aber geht sie nicht in das Dorf. Sie geht an den Strand und folgt der Tanglinie der nächtlichen Wellen im nassen Sand nach Süden. Sie geht, um ihren Traum zu finden, der sie hierhergebracht hat, vor langer Zeit schon. Drei Tage geht sie, langsamen, gleichmäßigen Schrittes, ohne Eile am Meer entlang. Nachts hüllt sie sich in die weite Decke und blickt über das Meer, bis das Lied der Wellen sie hinübernimmt in ihren Traum.

Am dritten Tag findet sie ihn, kurz vor Sonnenuntergang. Wie ein Kind kauert er im Schatten einer Düne, sein Blick verloren in der Weite der Wellen, seine Hand spielt ohne dass er es weiß mit dem warmen Sand, lässt ihn durch die Finger rinnen. Ohne Staunen, ohne Begreifen blickt er auf, als sie zu ihm tritt, sein Blick findet keinen Halt in ihrem Gesicht, wandert ziellos weiter an ihrer Gestalt hinab und irrt wieder aufs Meer hinaus. Seine nackte Haut trägt Spuren der Gewalt des Meeres, das ihn an dieser Küste ausgespien hat, sein magerer Leib spricht die Sprache des Hungers. Die Stumme hockt sich neben ihn, nimmt die Decke von den Schultern und hüllt ihn darin ein. Sie löst die Wasserflasche vom Gürtel, öffnet sie und hält sie ihm an die aufgesprungenen Lippen, lässt ihn trinken. Aus dem Gestrüpp am Rande der Dünen sammelt sie trockene Äste, schichtet sie auf neben ihm und macht Feuer. Über den züngelnden Flammen röstet sie das Brot, reicht ihm Früchte, Brot und Wein, trägt dann auf die Wunden seines Körpers heilende Salbe auf, die sie mit Blättern aus ihrer Tasche bedeckt. Er lässt alles geschehen, ohne Eile auch er, nimmt, was sie ihm reicht, ohne eigenen Willen, auch ohne Wehren. Im Sinken der Nacht fängt das Feuer manchmal seinen Blick ein, langsam kommt etwas von ihm an, er beginnt, für kurze Augenblicke sich und die Stumme wahrzunehmen. Als das Feuer in sich zusammenfällt, legt sie sich um ihn wie Blätter um eine Knospe und umhüllt seinen unruhigen Schlaf.

Drei Tage und Nächte wacht sie über ihn wie am Lager eines Kranken. Am Tage nimmt sie ihn an der Hand und führt ihn zurück den langen Weg am Strand entlang, nachts umfängt sie ihn in der Decke ihres Traumes. Immer häufiger wandert sein Blick vom Meer zu dem Land, zu ihrem Gesicht, zu den Steinen und Muscheln am Strand, zum Feuer, das sie abends wärmt. Kraft kehrt zögernd zurück in seinen Schritt, die Wunden beginnen zu heilen.

Am dritten Abend führt sie ihn an der Hand den Weg hinauf zu dem Haus über dem Meer. In der offenen Tür bleibt er stehen, weit fällt sein Blick noch einmal aufs Meer hinaus, dann schaut er sie an: wer bist du?

Am Feuer ihres Herdes beginnt er zu sprechen, von dem Wenigen, was ihm geblieben ist, von der Kraft der See, die seinen Namen von ihm weggerissen hat, vom Tod, der die Erinnerung ausgelöscht hat, von der Ahnung, dass es eine Ursache geben muss, von der Frage: wer bin ich?

 

In dieser Nacht nimmt sie ihn auf in ihren Schoß, lässt ihn ihren heiligen Namen spüren, tanzt mit ihm den uralten Tanz der Liebe.